Der Lebensbock

Juni 26, 2019

Eine Erzählung von Gaby Suckfüll

„Heute Abend kannst du mit uns fahren und filmen“, kündigt mir Max das Abendprogramm an. Es ist der 11. Mai 2019. In Polen hat die Bockjagd begonnen und heute geht es um einen ganz besonderen Bock. Max beobachtet ihn seit einigen Wochen. Am Morgen haben er und Mathias schon versucht ihn zu finden, aber der Bock ließ sich nicht blicken. Der Aufwuchs ist in diesem Jahr besonders hoch und aus den leuchtend gelben Rapsfeldern schaut das Rehwild nur noch so gerade mit dem Haupt heraus.

Um 16:30 Uhr fahren wir los in Richtung Namyslow. Mathias ist aufgeregt, Max auch. Sie planen die Vorgehensweise und überlegen, von wo aus sie diesmal die Jagd beginnen wollen. Max hat vor einigen Tagen noch einen Drückjagdbock aufgestellt, damit die Fläche, auf welcher der Bock steht, perfekt mit Ansitzmöglichkeiten abgedeckt ist. Ich sitze auf der Rückbank zwischen Schießstock, Rucksack und Mathias’ imposantem Jägerhut und überlege, wie ich die bevorstehenden Ereignisse filmtechnisch einfangen werde. Soviel zur Theorie.

Max parkt seinen Pick-up an einem Feldweg in der Nähe des Einstandes des Bocks. Wir steigen aus und schließen leise die Autotüren. Die Jäger prüfen den Wind – Mist – er steht nicht günstig. Max signalisiert mir, dass eine Pirsch zu dritt heikel ist. Ich will den Jagderfolg auf keinen Fall gefährden und bleibe deshalb am Auto zurück. Mathias hat seine Waffe geschultert und Max nimmt die Video-Kamera mit. Nach kurzer Zeit sind die beiden aus meinem Sichtfeld, in einer kleinen Senke, verschwunden. Ich lausche, schaue und warte. Totenstille an der jagdlichen Front, nur die Vögel zwitschern aus voller Kehle. In der Ferne bellt ein Hund.

Meine Erwartungen, dass doch endlich mal was passieren muss, dass ich die beiden irgendwo sehen kann oder dass ein Schuss fällt, werden nicht erfüllt. Es bleibt ruhig. Inzwischen ist es fast dunkel und ich sitze schon lange im Auto. Was machen die bloß? Eine gefühlte Ewigkeit später erscheint Max wie aus dem Nichts. Er reißt die Tür auf und seine Sätze überschlagen sich. „Sowas habe ich noch nicht erlebt.“ „Riesig“ „Das glaubst du nicht.“ „Wir haben ihn.“ „Das war schwierig.“ „Wunderbar!“ Max springt in den Wagen. Wir müssen ein gutes Stück fahren, um zu der Stelle zu kommen, wo der Bock liegt.

Max berichtet weiterhin völlig aufgewühlt von dem Jagderlebnis. Ich versuche gedanklich zu sortieren, was abgelaufen ist. Der Bock stand im Rapsfeld, war aber zu weit entfernt, dann zog er raus. Die beiden Jäger, sind pirschend und auf dem Bauch robbend hinter ihm her. Der Wind war ungünstig, also Rückzug und von einer anderen Seite ein neuer Versuch. Der Bock ist weitergezogen, die beiden hinterher, auf dem Bauch durch die Ackerfurchen, bis endlich alles gepasst hat und Mathias den Schuss antragen konnte. Das ist die Kurzform – diese Jagd hat fast drei Stunden gedauert. Die beiden haben den Bock geborgen und an einen Platz getragen, der mit dem Wagen erreichbar ist.

Mathias sitzt im Gras, der Rehbock liegt neben ihm und hat den letzten Bissen im Äser. Ein Bruch auf seiner Schulter bedeckt die Stelle, wo Mathias’ Kugel ihn getroffen hat. Mathias stehen die Freudentränen in den Augen und er sinniert über die Jagd. Der Jägerbruch ziert seinen Hut. Ich Wünsche ihm von Herzen Waidmannsheil. Es ist eine ergreifende Szene und unzählige Umarmungen und Glückwünsche werden ausgetauscht. Ich kannte den Bock von Fotos, die Max per Spektiv aufgenommen hatte. Doch was hier vor mir liegt, kann ich kaum glauben. Der Bock selbst ist nicht groß, sogar eher klein, aber sein Gehörn übertrifft alles, was ich bisher gesehen habe.

Routiniert versorgen Max und Mathias den Bock. Ich halte die Taschenlampe. Mit ein paar Hangriffen ist der Bock geringelt und bis zum Brustbein aufgebrochen. Der Träger wird mit einem Schnitt geöffnet, der Kehlkopf abgetrennt und der Schlund verknotet. Jetzt kann der gesamte Aufbruch sozusagen ‚am Stück‘ aus dem Körper gezogen werden. Fertig. Der Bock kommt auf den Pick-up und wird in die Kühlung gebracht.

Die Männer sind noch lange in ihrem Freudentaumel gefangen – es war eine äußerst schwierige, aber sehr erfolgreiche Jagd. Und obwohl ich in den spannendsten Momenten nicht dabei war, bin auch ich von den Ereignissen völlig ergriffen. Eigentlich sollte es ja ein Video von dieser Jagd geben. Max hat 8 Sekunden gefilmt, wie Mathias durch die Rüben schleicht, zu mehr ist er nicht gekommen. Mein Drehbuch kann ich wohl ad acta legen. Wie so oft kommt eben alles anders als geplant. Das ist Jagd.

Epilog

Der Bock wurde mit einer Goldmedaille ausgezeichnet und bekam 175,87 CIC Punkte. Die Trophäe wog 785 Gramm brutto und 685 Gramm netto. Im Bundesland Opolskie, in Schlesien, ist dies der fünftbeste Bock, der nach dem zweiten Weltkrieg erlegt wurde. Mathias, erfahrener Jäger und Förster von Beruf, konnte mit der Originaltrophäe die Heimreise antreten.

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